Reden zu besonderen Veranstaltungen



Verleihung des Ehrenbürgerrechts


Festansprache (Auszüge) von Verleger Friedhelm Berger (UND-Verlag)
anlässlich der Verleihung des Ehrenbürgerrechts der Einheitsgemeinde
Unterwellenborn an Verlagsautor Prof. Dr. Edwin Kratschmer am 26. Mai 2011
in der Aula der Regelschule Unterwellenborn.


"Der Gemeinderat der Einheitsgemeinde Unterwellenborn hat bereits am 24. November
des letzten Jahres auf seiner 11. Sitzung beschlossen, Herrn Prof. Dr. Edwin Kratschmer im
Hinblick auf seinen bevorstehenden 80. Geburtstag das Ehrenbürgerrecht zu verleihen.
Er erhält diese hohe Auszeichnung - es ist die höchste, die die Gemeinde überhaupt zu vergeben
hat - in dankbarer Würdigung seiner herausragenden Verdienste um Wissenschaft, Kunst
und Literatur. Edwin Kratschmer - seit 1955 Bürger von Unterwellenborn - hat durch sein Wirken
wesentlich im In- und Ausland zur Mehrung des Ansehens der Gemeinde Unterwellenborn
beigetragen.

Nach dem einstigen Geschäftsführer der Stahlwerke Thüringen GmbH, Dr. Jean-Michel Dengler
(im Jahr 2001) und Ex-Bürgermeister Horst Sterzig (2003) ist er der nunmehr dritte Ehrenbürger der
Einheitsgemeinde Unterwellenborn nach der Friedlichen Revolution von 1989. Nach einem
erfolgreichen Wirtschaftsmanager (Dr. Dengler ist heute in Luxemburg Managing Director beim
größten Stahlhersteller der Welt ArcelorMittal), einem verdienstvollen Kommunalpolitiker
(Horst Sterzig ist heute im Unruhestand in Erfurt), nun eine Ausnahmeerscheinung aus dem
Bereich Kunst und vor allem Literatur.

Der neue Ehrenbürger der Gemeinde Unterwellenborn ist Literatur- und Kunstwissenschaftler,
Psychologe, Lehrer, ein ausgezeichneter Kenner und Erforscher von Sprache, ein Mentor für junge
Poeten, ein "Wärmestrom in bleierner Zeit" (wie Jürgen Fuchs dichtete), ein Streitriese für
Humanismus, ein Fünf-Sterne-Dichter und -Schriftsteller, und vor allem … ein großes Vorbild
Mensch. Ein Mensch, der am 9. Juni 2011 in Unterwellenborn auf acht Lebensjahrzehnte mit
reichlich Diktaturerfahrung zurückblicken kann.

1931 im böhmischen Komotau als 4. Kind in die Familie eines Telegrafenbeamten hinein
geboren, erlebte Kratschmer als Kind den Zweiten Weltkrieg. Und überlebte nach Kriegsende,
am Tag seines 14. Geburtstages, den so genannten Todesmarsch der Komotauer Männer.
Im Dunkel der Nacht konnte er zwar dem Zug ins tschechische Arbeitslager Maltheuern entfliehen,
wurde aber - schon fast Zuhause - wieder aufgegriffen. Was folgte war Zwangsarbeit als
Deutscher in der Tschechoslowakei und Vertreibung aus der Heimat. Im August 1945 landete
Edwin Kratschmer mit Eltern und Schwester in einem Viehwagon in Oldisleben/Thüringen.
Seine beiden älteren Brüder waren 1942 und 1943 an der Ostfront gefallen.

Mit 17 Jahren entzündete sich Kratschmers Interesse an Literatur. Auslöser für das Feuer
war Kafkas 1912 entstandene Erzählung "Die Verwandlung" und die unfreiwillige Metarmorphose
des Protagonisten Gregor Samsa vom Handlungsreisenden in Ungeziefer. "Ich war literarisch
erweckt worden. Das Abenteuer Literatur hatte mich gepackt", verriet Kratschmer einmal.
Und bekannte: "Ich war in einen regelrechten Schreibsog geraten, der mich zu lebenslänglichem
Homo scribens machte."

Nach Ablegen des Abiturs in Bad Frankenhausen (übrigens zusammen mit Christa Wolf,
die damals noch Ihlenfeld hieß) - das war im Gründungsjahr der DDR 1949 - studierte Edwin
Kratschmer Kunst (zusammen mit Werner Tübke), außerdem Literatur und Psychologie in
Berlin/Ost, Greifswald und Leipzig. Anschließend (von 1951 bis 1955) war er als Lehrer in
Günserode/Kyffhäuser, Sonneberg und Rabenäußig tätig und bis 1983 - also 28 Jahre lang - in
Unterwellenborn (hier in diesem Schulgebäude).

Und Kratschmer schrieb, schrieb wie ein Getriebener. Allein in den 50er und 60er Jahren
brachte er zahlreiche Romane, Erzählungen, Essays und Gedichte zu Papier. Doch die eigenen
Texte ließ er erst einmal in den eigenen vier Wänden "auf Halde" liegen. Oder er versteckte
sie in einem fremden Kohlenkeller, um das selbst-verräterische geistige Gut vor unbefugtem Zugriff
zu schützen. Die Arbeiten hätten - da war sich der Urheber sicher - in der DDR ohnehin kaum
eine Chance auf die ihnen zustehende Öffentlickeit gehabt: "Und mag das Skript verlorengehn, dann
hätte das Schreiben zumindest den Sinn einer Selbstortung. Ich muss halt schreiben. Scribo ergo
sum, wer schreibt, lebt."

Doch was ist Schreiben für diesen Homo scribens, für diesen schon als Kind von der Geschichte
gebrandmarkten Autor, der von der einen in die andere Diktatur geriet? Er formulierte es einmal
so: "Schreiben ist immer Verrat an dir selbst. Du hetzt dich durch deine eigenen Wälder und schreist
heraus, was in dir tobt. Und in jedem Wort steckt Dein Leben, und jedes Wort kann Dir Fallbeil sein."

Von 1964 an saß Kratschmer das Fallbeil Stasi im Nacken. Unter dem Titel "Und Mut gehört
zum Wort" hatte es der Deutsch- und Klassenlehrer der 10. Oberschulklasse von Unterwellenborn
und Leiter des Lyrikclubs im Kulturpalst, doch gewagt, im Selbstverlag eine kleine Edition mit
23 Gedichten von Schülern herauszugeben, die er zum Schreiben provoziert hatte: "...halbfertige
Produkte Halbfertiger, Probleme enthaltend, die sie bewegen, begeistern oder empören…"
- verräterische Selbstzeugnisse Pubertierender. Aufrichtigkeit, Wahrheit, versteckt hinter der Maske
des Poetischen.

Das Echo war vorprogrammiert, in einer Zeit, in der Kunst "Waffen"-Charakter und Literatur
Partei-Literatur zu sein hatte: Die Schulbehörde verurteilte das Erscheinen des Bändchens und
bescheinigte dem Herausgeber "Missbrauch seines Erziehungsauftrags". In den Akten des MfS
konnte Kratschmer später nachlesen: "K...ist einer der geistigen Urväter, die mit der Parteiführung
unseres Landes nicht einverstanden sind…Er gehört zu jenen Verbrechern, die ohne
Skrupel junge Menschen beeinflussen und ausnützen, um das Ziel zu erreichen, den Sozialismus
zu schädigen…Aufgrund seines staatsfeindlichen Wirkens ist er als Lehrer nicht mehr tragbar.
Weitere Ermittlungen machen sich dringend erforderlich…"

Trotz allem begann Edwin Kratschmer mit seiner Frau Margret (und mit Hilfe von Förderern
wie dem Publizisten Hannes Würtz) von Unterwellenborn aus systematisch weiter republikweit
Gedichte junger DDR-Bürger zu sammeln. 1969 legte Kratschmer an der Universität
Leipzig in den Fachbereichen Literaturwissenschaft und Psychologie eine Dissertation vor, in der
er an Hand von 1376 zusammengetragenen Gedichten und einer Umfrage unter 763 Schülern
und Studenten das poetische Schaffen Jugendlicher in der DDR untersucht hatte und den Begriff
"Poetogenese" (Das Werden des Dichters) erschuf. Die wissenschaftlich hoch interessante
Arbeit wurde mit "magna cum laude" benotet. Im Laufe von 26 Jahren (von 1964 bis 1990) trugen
Kratschmer und Co. insgesamt 100.000 Gedichttexte von 15.000 Schülern und jungen Leuten
zwischen dem 17. und 25. Lebensjahr zusammen. Hinzu kam eine umfangreiche Korrespondenz
mit schreibenden Jugendlichen mit über 4000 persönlichen Gutachten von Edwin Kratschmer.
Die Friedrich-Schiller-Universität Jena erhielt diese einzigartige Sammlung 1995 als Schenkung
übereignet: ein unerschöpflicher Fundus, ein wahrer Schatz für weitere Forschungszwecke,
für Bachelor- und Master-Arbeiten, für Doktor-Arbeiten.

Als einer der Gründer der DDR-weiten Bewegung schreibender Jugendlicher, die von
Unterwellenborn aus ihren Anfang nahm, war E.K. spätestens Anfang der 70ger- Jahre (da
war er Seminarleiter am zentralen Poetenseminar in Schwerin) zu einer Kultfigur geworden,
zu einer heimlichen Leitfigur Literatur abseits vom System - und zu einem schützenden
Mentor für junge kritische Autoren wie zum Beispiel Jürgen Fuchs (1950 - 1999). Der DDR-
Bürgerrechtler dichtete Jahre nach seiner Zwangsausbürgerung nach Westberlin in einer
Hommage an seinen Literatur-Vater Edwin Kratschmer unter der Überschrift "Wärmestrom
in bleierner Zeit": "Es gibt Menschen / Denen man fast alles verdankt, einzelne / Wenige.
Ich spreche von meinem Freund Edwin Kratschmer / Und von Margret / Ohne Euch hätte ein
Teil der jungen kritischen Literatur dieses Landes nicht überlebt / wörtlich / …" Und weiter:
"...Du hast gewusst; Edwin, dass Literatur Entweder-Oder ist / Das Kunst sich krümmt / Unter
dem Kompromiss, dem Alltag, der Schule / Der Machtdienerei, lieber zerbricht / Und stirbt
als zu singen / In ihren Hinterzimmern…"

Edwin Kratschmer hatte nach einem "Kampf um die Seele" (Stasi-Zitat aus Kratschmers Akte
"Lyriker", geführt von einem Oberstleutnant Henry Müller) 1983 selbst den Schuldienst quittiert, um
Erpressbarkeit zu entgehen. Denn die Staatssicherheit hatte versucht, den Lehrer wegen
"staatsfeindlicher Gruppenbildung" massiv unter Druck zu setzen und ihn als Inoffiziellen Mitarbeiter
"gegen die Fuchs-Bande in Westberlin" anzuwerben. Doch Edwin Kratschmer blieb sich selbst
treu und gewann den Kampf um die Seele, "nicht weil ich ein Held gewesen bin, sondern nur, weil
mein Gewissen nicht mitgemacht hat."

In den Folgejahren arbeitete er als "Freiberufler" im Kulturpalast Unterwellenborn in der schon
1972 gemeinsam mit seiner Frau gegründeten Ersten Betriebsgalerie der DDR. Hier wurden bis
1990 in 120 Ausstellungen an die 270 Künstler mit 7000 Werken vorgestellt - obendrein mit
zahlreichen Publikationen. Ab 1987 baute Kratschmer am Stahlstandort Unterwellenborn die Kunst-
sammlung Maxhütte auf. Seine Projekt "Max braucht Kunst!" (in Anlehnung an "Max braucht Wasser")
wurde ein großartiger Erfolg. Heute umfasst die Sammlung 278 Gemälde und Grafiken von
51 DDR-Künstlern, überwiegend aus den späten Achtzigern, in denen nicht unkritisch die Arbeitswelt
im realen Sozialismus dokumentiert wird. Die Kollektion hat vor allem historischen Wert: Sie ist
eine der wenigen geschlossenen Kunstsammlungen eines volkseigenen Großbetriebes,
gehört heute dem Freistaat Thüringen und ist im In- und Ausland gefragt. Kratschmers Tochter
Dr. Maren Kratschmer-Kroneck, die Chefin der Saale-Galerie in Saalfeld, ist Kuratorin dieser
Kunstsammlung, die im Stahlwerk Thüringen ihr Zuhause hat.

Nach dem Fall der Mauer wurde Edwin Kratschmer auf Vorschlag des Runden Tischs in
Saalfeld zum Direktor der Erweiterten Oberschule berufen, die er gegen hartnäckige Wider-
stände in ein humanistisches Heinrich-Böll-Gymnasium umgestaltete. 1992 folgte er dem Ruf
an die Universität Jena mit Lehrauftrag für Neueste Deutsche Literatur. Vor allem seine Vor-
lesungsreihen zur Poetik des Jugendgedichts, zur Literatur im Totalitarismus und zur Ästhetik
der Gewalt erreichten schnell einen legendären Ruf. Neun Jahre lang holte Kratschmer inter-
nationale Schriftsteller nach Jena und bat sie, über ihre Erfahrungen in Diktaturen zu berichten.
"Dabei sollte auch erkundet werden, welchen Wert der Herdersche Humanitätsbegriff in unserer
Zeit noch hat." Der Themenkatalog reichte von Jürgen Fuchs´ "Poesie der Zerzetzung" bis zu
Imre Kertész´ "Hinrichtungsmaschine." 1996 wurde Kratschmer mit der Schiller-Medaille der
Universität geehrt. In der Verleihungsurkunde ist nachzulesen: "Edwin Kratschmer ist eine
herausragende, vorbildhafte Persönlichkeit, charakterfest, standhaft, mutig und opferbereit,
voller Takt, ideenreich, kreativ und dennoch außerordentlich bescheiden." Am 9. Juni 1999
erhielt Edwin Kratschmer eine Honorarprofessur. Die Universität versicherte sich damit
"eines unermüdlichen und in Fragen der neuesten Literatur ungemein kompetenten Geistes."

Prof. Dr. Edwin Kratschmer hat im Rahmen seiner beruflichen Tätigkeit eine große Anzahl wissen-
schaftlicher Arbeiten publiziert oder als Herausgeber Themen zu Literatur und Kunst veröffentlicht.
Doch erst 2001, im Alter von 70 Jahren, gab Edwin Kratschmer mit "Habakuk oder Schatten im Kopf"
sein vielbeachtetes Roman-Debüt. Bis zu seiner Veröffentlichung war das Werk 30 Jahre "auf Halde",
wie er sagt.. Nach dem Erzählband "Blaurausch" (2008) sind mit "Die Doppelhalsgeige" (ebenfalls 2008),
"Siebenschlaf" (2010) und "Wahnwald" (ganz aktuell) im Thüringer UND-Verlag weitere
Spitzenromane erschienen. Es sind - und das ist nicht nur Verleger-Meinung - allesamt Meisterwerke
der Literatur. Sie haben Nobelpreis-Niveau. (...)

Die Damen und Herren Gemeinderäte haben mit ihrem Beschluss, Herrn Prof. Dr. Kratschmer das
Ehrenbürgerrecht zu verleihen, eine in jeder Hinsicht hervorragende Wahl getroffen.
Unterwellenborn kann stolz auf seinen neuen Ehrenbürger sein, seinen "Homo scribens". (…)"